Zwei Leben

Die Strafsache Wilhelm Schweiger

von Pamela Pabst, gelesen von Ingo Hoppe

01. Wie alles begann

Der 21. Julei 1986 war ein Montag. Er begann gewöhnlich, und dennoch sollte er sein ganzes Leben auf den Kopf stellen. Am Vormittag hatte er einen Strafprozeß in »Moabit«, Berlins altehrwürdigem Kriminalgericht, geführt und war danach weiter zu einer Zivilstreitigkeit am Landgericht gehastet. Er hatte gewissenhaft seine Post erledigt, am Nachmittag drei Mandanten empfangen, und nun war es fast 19.00 Uhr geworden... - wieder ein Arbeitstag vorüber.

»Frau Genest, haben Sie den Schriftsatz ans Amtsgericht Charlottenburg schon fertig?« fragte Wilhelm Schweiger und betrat mit einem gewaltigen Aktenstapel vor der Brust das Vorzimmer, wo seine Sekretärin noch immer eifrig auf die Tastatur ihrer Schreibmaschine einhämmerte. Wilhelm Schweiger war eine würdige, konservative Erscheinung Anfang fünfzig, groß und schlank. Er hatte silbergraues, volles Haar und trug einen schwarzen Anzug, dazu ein weißes Hemd mit Manschettenknöpfen und eine dezent gemusterte, um nicht, zu sagen biedere Krawatte. »Ich bin gerade fertig geworden, Herr Schweiger«, sagte Frau Genest und zog das Blatt aus der Maschine. Mit den Worten »Das hier kann weggehängt werden« legte er ihr eine der Akten auf den Tisch und wuchtete den Rest unter großer Kraftanstrengung auf einen der Registraturschränke gegenüber. »Was ist eigentlich mit der Sache da am Kammergericht?« »Das hab ich Ihnen doch ins Zimmer gebracht, genau so wie die Unterlassungsklage für Frau Dörfler«, entgegnete Frau Genest, sich keiner Schuld bewußt, während sie den Schriftsatz zusammenfaltete und couvertierte. Frau Genest war eine Sekretärin wie sie im Buche stand, ein mütterlicher Typ, Mitte sechzig, mit grauem, lockigem Haar und einem lieben Gesicht. Sie trug ein blaugraugestreiftes Kleid mit einem weißen Kragen und balancierte eine goldene Lesebrille auf der Nase. Seit Jahrzehnten war sie stets der gute Geist der Kanzlei, eine herzerfrischende Person mit einer Engelsgeduld, die nur für ihren Chef zu leben schien, fleißig war für drei und dabei auch noch Spaß hatte. »Können Sie mal schaun, wie mein Terminplan für morgen aussieht?« fragte er fast beiläufig, während er wieder auf sein Zimmer zusteuerte, und Frau Genest blätterte eine Buchseite auf. Diese Zeremonie wiederholte sich seit nun fast zwanzig Jahren jeden Abend: »9.00 Uhr Moabit in Sachen Hermann Geiger, 12.00 Uhr Landgericht Tegeler Weg Schmidtke gegen Rufus, um 14.00 Uhr kommt Frau Kreidel, um 15.00 Uhr Herr Lange, das ist die Sache mit dem Testament, wissen Sie?« »Ach ja, ich erinnere mich dunkel.« »Um 16.30 Uhr ist dann Ulrich gegen Breitenbach dran – da könnte man noch was zwischenschieben – und um 17.00 Uhr Herr Vierlich.« »Und wann soll ich meine Post machen? Hoffentlich dauert das nicht wieder so lange in Moabit morgen«, nörgelte er, fing sich dann aber schnell wieder. »Dann können Sie von mir aus auch nach Hause gehen. Es ist ja schon spät. Ich mach noch was, das leg ich Ihnen hier vorne hin, wenn ich gehe. – Schönen Abend noch.« »Danke schön, Ihnen eben so, und grüßen Sie Ihre Frau.« »Mache ich.« Damit verschwand er wieder in seinem Zimmer und ließ die Tür ins Schloß gleiten.
 
Frau Genest hatte bereits fast alle Akten zurück in die Registraturschränke geräumt, als es plötzlich an der Tür läutete. »Wer ist da bitte?« fragte sie über die Gegensprechanlage, und im Lautsprecher auf ihrem Schreibtisch ertönte eine junge Frauenstimme: »Guten Abend, mein Name ist Neelsen«, sagte sie. »Ich möchte zu Herrn Schweiger.« »Der Herr Schweiger und der Herr Boysen sind aber nicht mehr da«, antwortete sie knapp, doch die Frau ließ nicht locker: »Lügen Sie mich doch nicht an. Ich weiß, daß Ihr Chef noch da ist«, erwiderte sie mit erbostem Unterton. »Lassen Sie mich gefälligst rein!« »Wie käme ich dazu? Kommen Sie morgen wieder. Wir haben von 14.00 bis 18.00 Uhr Sprechstunde.« Frau Genest glaubte, daß damit die Sache erledigt sei, was im Nachhinein betrachtet auch das Beste gewesen wäre, doch da öffnete sich plötzlich die Tür hinter ihr, und Wilhelm Schweiger stand im Zimmer. »Was ist denn noch?« fragte er. »Ich dachte, Sie seien längst weg.« »Da ist eine Frau Neelsen draußen. Sie weiß offenbar, daß Sie noch da sind“, berichtete Frau Genest. »Ich habe ihr gesagt, sie soll morgen wiederkommen, aber sie läßt sich nicht vertrösten.« »Eine Frau Neelsen?« wiederholte er halb in Gedanken und gab äußerlich nichts preis von der plötzlichen Aufgewühltheit, die ihn durchfuhr, seit er diesen  Namen gehört hatte. »Lassen Sie sie nur rein«, entschied er schließlich scheinbar großzügig, und Frau Genest drückte auf den Türöffner. »Wenn Sie meinen.«