Zwei Leben

Die Strafsache Wilhelm Schweiger

von Pamela Pabst, gelesen von Ingo Hoppe

05. Strafe, wem Strafe gebühret

Am 7. Dezember 1986 brachte Margot Schweiger den kleinen Florian zur Welt. Er war kerngesund und seinem Vater wie aus dem Gesicht geschnitten. Der Vergleich mußte allerdings noch etwas auf sich warten lassen, da Wilhelm Schweiger erst am Freitag, dem 23. Januar 1987, aus dem Krankenhaus entlassen wurde. Es war ein kalter, aber sonniger Januartag. Margot Schweiger war ein wenig aufgeregt, als sie ihn abholte. Nun begann ein völlig neuer Abschnitt in ihrem Leben. Noch ging es nicht in ihren Kopf, daß er nie mehr neben ihr herlaufen oder sie im Stehen in den Arm nehmen würde. Sie wußte auch gar nicht, wie sie jetzt mit ihm reden sollte. Durfte sie weiterhin »spazierengehen« sagen oder war das taktlos? - Sie hatten ihr Auto erreicht. »So, dann wollen wir mal«, sagte sie und schloß die Beifahrertür auf. Er kannte das Auto nicht. Offenbar hatte sie es erst nach dem Unfall angeschafft. Wie er es von Frau Remé gelernt hatte, rutschte er langsam von seinem Rollstuhl auf den Beifahrersitz. »Geht es?« fragte Margot Schweiger etwas verlegen und hilflos zugleich, denn sie war sich unsicher, ob sie ihn überhaupt so etwas fragen sollte, und wenn, dann wußte sie nicht, ob er ihr die Wahrheit sagte. »Ja es geht«, antwortete er knapp und meinte ihre Blicke zu spüren. Augenblicklich wurde er nervös. Als könne sie seine Gedanken lesen, sah sie nicht mehr hin, sondern beobachtete zwei Spatzen, die gegenüber auf einem Ast saßen und sich laut schnatternd pickten. Als er fertig war schlug sie die Tür zu und packte den Rollstuhl in den Kofferraum.

Während der Autofahrt sprach er kein Wort. »Deine Mutter ist zu Hause bei den Kindern. – Von der anderen Sache weiß sie bis jetzt nichts. - Nun lernst du endlich Florian kennen. Inzwischen macht er nachts auch nicht mehr so ein Theater.« Sie wußte nicht, was sie sagen sollte, aber einfach nur schweigend dahinzufahren hielt sie nicht aus.

Nina wußte, wie sie mit ihm umzugehen hatte; so wie immer. »Papi! – Mein lieber Papi!« rief sie voller Begeisterung, kaum daß sie ihn erblickt hatte und lief von ihrem Puzzle weg, an dem sie zuvor gemeinsam mit ihrer Großmutter gewerkelt hatte. Hastig kletterte sie ihm auf den Schoß und umschlang seinen Hals mit ihren kleinen Ärmchen. Er drückte sie fest an sich, als wolle er sie nie mehr loslassen, und erstmals seit vielen Monaten huschte wieder ein Lächeln über sein Gesicht.  „Nicht auszudenken, wenn sie damals mit im Auto gewesen wäre. Für einen Augenblick war er überglücklich, doch leider nur für einen Augenblick. »Komm her Nina«, unterbrach seine Mutter streng ihre Innigkeit und tötete jäh das so wohltuende Glücksgefühl, das er soeben zu genießen begonnen hatte, doch heute ließ er sich von ihr nichts befehlen, heute nicht. Es war geradezu bezeichnend, daß sie immer gerade dann ihr Veto einlegte, wenn er Gefühle zuließ.