Zwei Leben

Die Strafsache Wilhelm Schweiger

von Pamela Pabst, gelesen von Ingo Hoppe

08. Die zweite Chance

Um 8.45 Uhr war der altehrwürdige Sitzungssaal der 29. Großen Strafkammer noch fast leer. Außer der Protokollführerin hielten sich dort nur zwei Justizwachtmeister auf. Boysens Blick fiel sofort auf Margot Schweiger, die vor dem Saal saß und nervös die Hände rang, als er zu so früher Stunde eiligen Schrittes den Gang durchquerte. »Guten Morgen«, rief er schon von weitem, trat an sie heran und gab ihr die Hand. »Guten Morgen Herr Boysen. Ich habe die ganze Nacht nicht geschlafen vor lauter Aufregung«, sagte sie, und die Erschöpfung stand ihr wahrlich ins Gesicht geschrieben. Sie konnte kaum die Augen offen halten und war schrecklich blaß. »Immer mit der Ruhe«, versuchte Boysen sie aufzubauen, »haben Sie die Kinder mitgebracht?« »Nein, die sind bei meiner Schwiegermutter.« »Wie verarbeitet die denn die ganze Sache?« Boysen wußte, daß seit der Verhaftung Schweigers das Verhältnis zwischen ihm und seiner gestrengen Mutter nicht das beste war. »Überhaupt nicht«, sagte Margot Schweiger. »Sie hat ja schon Probleme damit zu akzeptieren, daß ihr Sohn nun eine Behinderung hat, aber daß er nun auch noch ‚die Familienehre so beschmutzen und das Erbe seines Vaters zugrunde richten muß’ wie sie sagt ist zuviel für sie. - Vielleicht darf man das ihr in ihrem Alter nicht mehr so übelnehmen, aber es ist doch sehr belastend.« Im Oktober wurde Schweigers Mutter 82. »Daß es so gekommen ist, kann ohnehin niemand mehr ändern. – Aber jeden Tag zerbreche ich mir den Kopf über das warum. – Warum hat er das gemacht?« Mühsam hielt sie die Tränen zurück. Boysen sah sich in dieser Frage ebenfalls hilflos mit leeren Händen. »So richtig kann ich Ihnen darauf auch keine Antwort geben, Frau Schweiger« gestand er. »Ich weiß nicht, was passiert, wenn die beiden wieder aufeinandertreffen. Aber wenn dieser Prozeß hier vorbei ist, mache ich drei Kreuze.« »Immer ganz ruhig bleiben, das kriegen wir schon hin, Frau Schweiger«, sagte er ermunternd und strich ihr über die Schulter. »Ist Ihr Mann schon vorgeführt worden?« »Ich weiß nicht. Ich war die ganze Zeit hier draußen auf dem Gang. Man kann doch nicht so einfach in den Saal hineingehen...« »Warten Sie hier, ich schau mal nach.« Damit ging er entschlossenen Schrittes durch die halbgeöffnete hohe Saaltür und war für Margot Schweiger verschwunden.

Der Saal glich jenem, in welchem Doris Aalatt mit ihrer Strafkammer sonst verhandelte. Mit einem freundlichen »Guten Morgen« grüßte Paul Boysen die Protokollantin und den am Fenster lehnenden Justizwachtmeister, der gedankenverloren einen Bonbon auswickelte. Sein Kollege war kurz zuvor in das Beratungszimmer zur Strafkammer gebeten worden. Paul Boysen stellte seine Aktenmappe an dem ihm von der prozessualen Sitzordnung zugewiesenen Platz in der Nähe der Saaltür ab und wollte gerade seine Robe anziehen, als der zweite Wachtmeister aus dem Beratungszimmer zurückkehrte. »Sind Sie Herr Rechtsanwalt Boysen?« »Ja«, sagte er und spürte, daß irgend etwas los sein mußte, doch alles weitere sollte er von der nun Vorsitzenden Richterin Christiane Schlüter erfahren, die kurz darauf aus dem Beratungszimmer folgte. Sie war noch in Zivil und hielt eine Kaffeetasse in der Hand. »Die JVA hat gerade angerufen«, berichtete sie ernst. »Wir können heute nicht verhandeln. - Ihr Mandant hat versucht, sich umzubringen.«