Zwei Leben

Die Strafsache Wilhelm Schweiger

von Pamela Pabst, gelesen von Ingo Hoppe

10. Licht und Schatten

Frau Genest sollte recht behalten, doch Margot Schweiger staunte nicht schlecht, als ihr Mann an diesem Abend weder von Herbert Klagis noch von Paul Boysen nach Hause gebracht wurde. Statt dessen half ihm eine junge Frau aus einem grünen VW-Golf, die sie erst auf den zweiten Blick als die hilfsbereite Richterin vom Landgericht identifizieren konnte. »Ihr kennt euch ja schon vom Sehen. – Margot, das ist Doris Aalatt. Sie wird in Zukunft als Anwältin bei uns tätig sein«, stellte er sie vor, und beide Frauen gingen aufeinander zu, um sich freundlich zu begrüßen und sich die Hand zu reichen. »Dann haben Sie es jetzt also doch wahrgemacht«, sagte Margot Schweiger. »Ja, zum 31. Mai ist Schluß. Ich habe heute bei Ihrem Mann den Vertrag unterschrieben«, sagte Doris Aalatt erleichtert. »Aber ich werde dann mal wieder.« »Die letzten paar Tage überstehen Sie auch noch«, munterte er sie auf und sah ihr nach, als sie zum Auto ging. »Ihr Wort in Gottes Ohr. – Auf wiedersehen!« Damit verschwand sie in ihrem Auto, und wenig später drehte der Wagen auf der Einfahrt.

»Warum hat sie dich denn nach Hause gebracht?« fragte Margot Schweiger, während er Doris Aalatts Winken erwiderte. »Sie kam um 16.00 Uhr vorbei und hat ihren Vertrag unterschrieben«, berichtete er. »Danach haben wir uns noch ein wenig unterhalten, und als ich zurück im Büro war hatte sich Boysen bereits aus dem Staub gemacht. Ich hatte völlig vergessen, daß er noch zu Herrn Klagis wollte. Eigentlich sollte ich sogar mitkommen.« »Warum hast du denn nicht angerufen?« fragte Margot Schweiger. » Ich wäre doch gekommen und hätte dich abgeholt, das weißt du doch.« Ihre Stimme klang vorwurfsvoll, und er glaubte, ein wenig Eifersucht herauszuhören. »Sie hat es mir ja angeboten«, rechtfertigte er sich. Er hatte noch nie einen fremden Menschen getroffen, der so unbefangen mit seiner Behinderung umgegangen war wie sie. »Außerdem wollte ich dir keine weiteren Umstände machen. – Schließlich habe ich dir heute schon genug Arbeit gemacht!« Er spielte darauf an, daß sie am Morgen mit ihm im Gericht gewesen war. »Du hättest ja auch ein Taxi nehmen können«, erwiderte sie ein wenig enttäuscht. »Du bist doch wohl nicht etwa eifersüchtig auf Frau Aalatt?« »Nein«, antwortete sie zögerlich, doch dies entsprach nur bedingt der Wahrheit. Tatsächlich verspürte sie überraschenderweise ein leises Eifersuchtsgefühl. Doch sie war sich absolut sicher, daß er ihr treu war. Zum einen, weil sie davon ausging, daß er sie sehr liebte, zum anderen, weil sie es für unmöglich hielt, daß eine andere Frau sich trotz seiner körperlichen Gebrechen in ihn verlieben und ihn ihr abspenstig machen könnte. »Hättest du mich eigentlich auch geheiratet, wenn damals schon alles so gewesen wäre?« fragte er, ohne natürlich ihre Gedanken zu kennen, aber diese Frage drängte sich in diesem Augenblick förmlich auf. »Ich weiß nicht«, sagte sie zögerlich. Doch warum sollte jemand das alles freiwillig auf sich nehmen, wenn er es auch bequemer haben konnte? Fast war sie ein bißchen erschrocken darüber, daß sie so materielle, egoistische Erwägungen anstellte und genau so dachte wie wahrscheinlich die meisten Menschen, denen er tagtäglich begegnete.  Und im Stillen kam sie zu dem Schluß, daß sie wohl jedenfalls erhebliche Berührungsängste gehabt hätte.