
von Pamela Pabst, gelesen von Ingo Hoppe
Nachdem Frau Genest ihm ihre Bestürzung über das aus ihrer Sicht völlig indiskutable Verhalten seiner Noch-Ehefrau mitgeteilt hatte, rief Paul Boysen ihn zu sich. »Ich habe erfahren, daß Ende des Monats der Bundesgerichtshof in Ihrer Sache entscheiden wird«, eröffnete er ihm ernst, als sie sich schließlich am Schreibtisch gegenübersaßen. »Ach ja, schon?!« entgegnete er, »sind die Herrschaften doch bereit, sich noch einmal damit auseinanderzusetzen?« Boysen nahm einen Zettel vom Schreibtisch. »Am...«, setzte er zum Vorlesen an, doch er unterbrach ihn: »Nein, ich will es gar nicht wissen.« - Boysen ließ den Zettel sinken. Näheres führte nur zu schlaflosen Nächten und Depressionen. Verhindern konnte er das Urteil ohnehin nicht. Genauso wie ihn niemand gefragt hatte, ob er gelähmt bleiben wolle, fragte ihn auch niemand, ob er ins Gefängnis wolle. »Das kommt mir alles vor wie aus einem früheren Leben. Inzwischen ist so viel passiert...« »Das kann man wohl sagen! Sie haben Ihr halbes Leben auf den Kopf gestellt, Herr Kollege«, sagte Boysen anerkennend. »Und deshalb will ich auch gar nicht wissen, wann die Entscheidung fällt. Wenn sie das Ergebnis kennen, dann sagen Sie es mir, dann muß ich damit irgendwie versuchen fertig zu werden, und Schluß.« Boysen versuchte alle Ernsthaftigkeit zusammenzunehmen, zu der er fähig war, und überlegte sich zweimal, wie er den Satz formulieren sollte, der ihm dann über die Lippen kam: »Und was ist, wenn die das Urteil aufheben und zurückverweisen?« Boysens Frage war nicht unberechtigt, doch daran mochte er gar nicht denken. Wenn wieder alles von vorne losging, er wieder nach Moabit mußte, man wieder Hannah Neelsen vernahm und man ihm wieder vorhielt, was er getan hatte, dann bedeutete das eine Katastrophe. »Dann mach’ ich vorher Schluß«, sagte er mit erschreckender Ernsthaftigkeit. Paul Boysen glaubte ihm jedes Wort und wagte es nicht, ihm zu widersprechen. Wenn er nicht an Schlaftabletten herankam, dann würde er es wieder mit einem Cocktail aus all seinen Medikamenten versuchen, hatte er sich ausgemalt. Oder er würde sich die Pulsadern aufschneiden - aber eigentlich hatte er Angst davor, sich selbst Schmerzen zuzufügen. »Das kann doch nicht immer so weitergehen bis ich 70 bin! Irgendwann muß doch mal Schluß sein«, fuhr er fort. »Ich bereue doch, was ich getan habe, ich verstehe ja selbst nicht, wie es dazu kommen konnte. – Schaun Sie mich doch an! Habe ich denn nicht schon genug gebüßt?« Seine Worte gingen Boysen nahe, doch er versuchte, sie sich vom Leib zu halten.