Zwei Leben

Die Strafsache Wilhelm Schweiger

von Pamela Pabst, gelesen von Ingo Hoppe

17. Die Akte

»Der Baum ist immer noch schief!« rief Klaudia Boysen und stieg von einem Hocker herunter. »Ist es so besser?« fragte Paul Boysen und drehte die Schrauben des Weihnachtsbaumständers fester. »Ja.« »Sag mal, wie läuft es denn jetzt mit den Übungsbögen?« Daß er jetzt darauf zu sprechen kommen mußte, ärgerte Klaudia. Aber besser als an Heiligabend. »Eigentlich ganz gut«, sagte sie. »Kommen die Kugeln hier auch dran?« Sie hielt eine rote Christbaumkugel hoch und ging davon aus, alles überstanden zu haben. »Ja«, antwortete Boysen, »schau mal, ist der Baum jetzt gerade?« »Ja.«  Sie hatten die Tanne im Sonderangebot auf dem Rathausvorplatz erworben, doch das gute Stück war leider sehr störrisch im Umgang. »Und ihr vertragt euch gut?« fragte Boysen beiläufig, während er weiter an der Tanne herumzupfte. »Er gibt sich große Mühe mit mir.« »Wer? - Ach so, Schweiger meinst du.« Der Baum raubte Paul Boysen noch den letzten Nerv und ließ ihm den Schweiß auf die Stirn treten. »Er ist richtig lieb und kein bißchen schulmeisterisch«, fuhr Klaudia fort. »...so wie dein Vater, wolltest du wohl sagen!« »Das hast du gesagt«, lachte Klaudia und wedelte mit einer Goldschnur herum. »Ich hab einfach nicht die Geduld.« Er nahm eine rote Schleife und befestigte sie an einem Zweig. »Wann kommt eigentlich Mama?« »Sie wollte um 17.00 Uhr hier sein.« »Nur weil der Hund keine Familie hat, heißt das noch lange nicht, daß wir hier alles alleine machen müssen«, sagte Klaudia wütend und hängte eine goldene Kugel so schwungvoll an einen Zweig, daß der ganze Tannenbaum bedenklich zu wackeln begann. Die Uhrzeit stand neuerdings immer unter der Prämisse, daß Agnes Boysens Vorgesetzter Oberstaatsanwalt Hund nicht noch etwas Wichtiges zu besprechen hatte.  Manchmal war Paul Boysen wütend auf diesen Typen, besonders wenn sie beruflich aneinandergerieten, aber er gönnte seiner Frau die berufliche Karriere. Sie hatte immerhin auch eine lange Ausbildung gehabt, und warum sollte sie zu Hause herumsitzen, wenn er und Klaudia in der Kanzlei waren. Und wenn sie es mal nicht schaffte, ihm ein Hemd zu bügeln, dann zog er es eben ungebügelt an. Wer sah das schon unter dem Jackett. Schweiger hätte dies natürlich niemals getan, aber das unterschied sie halt. »Wie ist das eigentlich«, fragte Klaudia, »ist Herr Schweiger  jetzt mit Frau Aalatt richtig auseinander?« »Das fragst du ausgerechnet mich? Ich hab da nicht näher nachgefragt, und ich werde auch einen Teufel tun! Das ist da alles nicht so einfach. – Gib mir mal eine Kugel rüber.« Er hoffte, das Thema damit abgebogen zu haben, doch daß er sich sperrte, beflügelte Klaudias Neugier nur noch mehr. »Hat sie jetzt wirklich gekündigt?« fragte sie ungläubig und wartete gespannt auf eine Antwort. »Ja.«  «Und warum?« »Weil sie wohl das Hin und Her zwischen ihr und seiner Frau nicht mehr aushält. Kann ich ja auch irgendwie verstehen. Aber schade ist es trotzdem. Außerdem macht seine Art sie wohl ziemlich fertig.« Klaudia sah ihn verwundert an. »Ich komme gut mit ihm aus.« »Ihr wollt ja auch keine Beziehung miteinander anfangen«, lachte Boysen und hatte den Ärger über Oberstaatsanwalt Hund bereits vergessen, doch Klaudia sah ihn weiter fragend an. »Ohne Vorwarnung kann es dir passieren, daß dir irgendwelche Bösartigkeiten unterstellt werden, an die du im Traum nicht gedacht hast«, erläuterte er ihr und spürte, wie sich sein Blutdruck bereits bei diesem Gedanken wieder steigerte. »Wenn er in eine seiner depressiven Phasen fällt, dann war es das. Dann kannst du nichts mehr machen, außer Verständnis aufbringen und hart zupacken, um die Arbeit irgendwie auf die Reihe zu bekommen.« Klaudia konnte sich kaum vorstellen, daß sie beide über den selben Menschen sprachen, doch warum sollte ihr Vater sie anlügen?! - Es paßte so gar nicht zu dem Bild, das sie von ihm hatte. »Ich weiß, daß er manchmal nicht zu sprechen ist, aber ungerecht war er zu mir noch nie. Ich kenne ihn nur lieb und lustig.« »Dann hast du aber gewaltig was verpaßt.« Er hängte eine Kugel an. »Manchmal glaube ich, er spinnt langsam. – Aber das bleibt unter uns.« Klaudia nickte stumm und versuchte, sich so eine Szene auszumalen, wie sie ihr Vater beschrieb. Es war eine eigenartige Vorstellung, die so überhaupt nicht in ihren Kopf gehen wollte. Eigentlich traute sie ihm überhaupt nichts Negatives zu. »Es gibt zwar Leute, die Fahrerflucht begehen und die Schuld dann auf den anderen schieben, aber du kannst mir nicht erzählen, daß Hannah Neelsen schuld an seinem Unfall ist«, brach es plötzlich aus ihm heraus  und Klaudia verstand nur noch Bahnhof. »Ja und?« Sie sah ihren Vater groß an. »Davon ist er überzeugt! Und ich warne dich, versuche nie, ihn vom Gegenteil zu überzeugen, nie!« »Aber seine Frau, die kennt ihn doch länger, warum ist die nicht schon weggelaufen, wenn das so schlimm sein soll?« fragte Klaudia immer noch ungläubig. »Immerhin ist er der Vater ihrer Kinder, und sie sind verheiratet. Das verbindet – sieh mich und deine Mutter an!«