Zwei Leben

Die Strafsache Wilhelm Schweiger

von Pamela Pabst, gelesen von Ingo Hoppe

22. Wer dem Ende nicht ins Auge sehen kann

Am Freitag, dem 8. Januar 1988, suchte Doris Aalatt ihn zum zweiten Mal in der Untersuchungshaftanstalt auf, doch dieses Mal hatte sie nicht das Bedürfnis, ihn in den Arm zu nehmen. Nicht weil sie ihn nicht mochte, ganz im Gegenteil, doch inzwischen hatte sie das Gefühl, damit Unrechtes zu tun.

Alles war wie bei ihrem letzten Besuch. Sie lief den schummerigen Gang entlang, hatte Angst sich zu verlaufen, gab der schnippischen Beamtin im Glaskasten ihre Vollmacht und wartete in einer verrauchten Zelle auf ihn. Sie hatte sich vorgenommen, das Gespräch mit einem »Hallo« und einem Händedruck zu beginnen, um dann in die Erörterung der Tatumstände einsteigen zu können, doch es sollte alles ganz anders kommen. Die Tür öffnete sich, der Vollzugsbedienstete brachte ihn hinein und ging wieder. Gleichzeitig stand sie auf,  sagte „Hallo“ und reichte ihm zur Begrüßung die Hand, nur damit war es nicht getan. »Bitte, ich möchte dich in den Arm nehmen«, verlangte er plötzlich, und Doris Aalatt wußte nicht, was sie tun sollte. Doch da sie ja niemand sah und sie ihn ja schließlich ebenfalls sehr mochte, entsprach sie seinem Wunsch. »Vielleicht erleichtert es ihm unser Gespräch«, dachte sie, doch dann küßte er sie plötzlich auf die Wange. Doris Aalatt zuckte innerlich zusammen, versuchte, sich ihren Schreck jedoch nicht anmerken zu lassen. Glück und Bedrängnis kämpften in ihrer Brust. »Ich soll dich von Frau Genest grüßen«, brachte sie verwirrt hervor, um die Situation zu überspielen, und löste sich von ihm. »Danke«, sagte er emotionslos, und sie wußte nicht, ob dies dem Gruß oder eher dem erzwungenen Kuß galt. »Und ich habe mit deiner Frau telefoniert. Sie scheint sehr verzweifelt zu sein. Sie hat dich nachwievor sehr lieb und kann das alles noch gar nicht glauben. Sie macht sich große Sorgen, dich nie mehr in Freiheit wiederzusehen.« »Vielleicht ist diese Sorge auch nicht unberechtigt.« »Nun laß doch den Kopf nicht hängen! Ich bin doch bei dir, und jetzt kann dir ja auch niemand mehr etwas tun«, versuchte sie ihm Mut zuzusprechen, doch ihre Bemühungen waren vergebens. »Aber sie ist immer noch da!« antwortete er ungehalten. »In der Nacht träume ich von ihr. Sie steht in meiner Zelle und posiert. ‚Komm her zu mir, laß dich verführen, komm’, sagt sie zu mir, und ich schreie sie an, daß sie endlich verschwinden soll, aber sie geht nicht, sie geht einfach nicht!« Sein Blutdruck explodierte, schon wenn er nur daran dachte, doch wenn er darüber sprach, war es kaum auszuhalten. »Ganz ruhig«, sagte Doris Aalatt und strich ihm über die Hände.