
von Pamela Pabst, gelesen von Ingo Hoppe
Am Dienstag, dem 4. Juli 1988, bekam Schweiger erst einmal einen Zellengenossen. Er hieß Josef Stollberg. Stollberg war ein kräftiger, dunkelhaariger Typ Anfang dreißig, mit zahlreichen Tätowierungen auf den Armen und knasterfahren. Er war mehrfach rechtskräftig verurteilt wegen Bankraubes. »Ich bin der Jo«, stellte er sich vor, als er mit Sack und Pack die Zelle betrat, »und wie heißt du?« Schweiger zögerte. Irgendwie war es ihm unangenehm, geduzt und nach seinem Namen gefragt zu werden. »Mein Name ist Wilhelm«, antwortete er förmlich. Angst vor seinem Mitgefangenen hatte er nicht, doch er fühlte sich bereits jetzt wie der letzte Versager. »Hast du was dagegen, wenn ich dich Willi nenne?« fragte Stollberg, doch Schweiger merkte ihm an, daß er eigentlich schon jetzt entschlossen war, ihn nicht mit seinem richtigen Namen anzureden und die Frage nur Förmelei. »Eigentlich heiß’ ich ja auch Josef. – Klingt aber so blöde.« Er hatte sehr wohl etwas dagegen. So hatte ihn noch niemand genannt, und er fand, daß diese Anrede seine unterwürfige Lage noch verstärkte, doch nie im Traum wäre ihm eingefallen, Jo zu widersprechen. »Eigentlich geht mir das ja ziemlich auf den Sack, wenn ich mir die Bude auch noch mit wem teilen soll, aber der Meister hat gesagt, daß sie das nicht machen können, dich hier alleine lassen, die kommen denen sonst noch auf den Kopf - steht wohl irgendwo sowas im Gesetz.« »§18 Absatz 1 Satz 2 Strafvollzugsgesetz«, dachte er, doch er hütete sich, etwas zu sagen. »Spielst du Karten?« fragte Jo. »Das ist sonst nämlich stinklangweilig.« Schweiger sah ihn irritiert an. »Du bist wohl zum ersten mal eingefahren, was?« Er antwortete nicht. »Kannst mich alles fragen, aber auf was ich dann antworte, entscheide immer noch ich, klar? Das bißchen Freiheit nehme ich mir noch«, sagte Jo, und sofort war der Anflug von Umgänglichkeit wieder dahin. »Wegen was sind Sie, äh du, verurteilt worden?« fragte er vorsichtig und richtete sich aus seiner liegenden Position auf. »Bankraub, richtig schöner, klassischer Bankraub. Mit der Knarre rein und mit 400 Mille wieder raus. – Vier Tage später haben die Bullen mich dann gekascht.«
Wilhelm Schweiger und Jo Stollberg verband spätestens nach 24 Stunden eine Haßliebe. Stollberg arbeitete tagsüber zwischen 7.00 Uhr und 15.30 Uhr in der Anstaltsbäckerei, so daß er seine Ruhe vor ihm hatte, gleichzeitig war es aber auch fast erlösend, dann wieder nicht ganz allein zu sein und Buchstaben zählen zu müssen. Er rastete regelmäßig aus, wenn sich Jo am Abend beim Zähneputzen mit der freien Hand selbst befriedigte und auf dem Klo ein größeres Geschäft erledigte, während er den Nachtisch vom Mittagessen aß. Jo wiederum beschimpfte Schweiger als Schlaffi, wenn dieser ihn bat, ihm beim Kathetisieren nicht zuzusehen oder ihn über seine sexuellen Fähigkeiten und Vorlieben auszufragen versuchte. Nach drei Tagen schmückten ihre Zelle wieder großformatige Nacktposter, die Jo organisiert hatte. Dafür war es Schweiger gelungen, sich mit Büchern zu versorgen. - Jo las nicht, zu anspruchsvoll. Er verzichtete auch darauf, am Sonntag zum Gottesdienst zu gehen. Josef Stollberg hielt es für puren Unsinn, an den lieben Gott zu glauben und beschimpfte den Anstaltsgeistlichen als »Pfaffen«, doch Schweiger ließ sich diese Abwechslung nicht entgehen. Die Kirche war der einzige Ort in der Anstalt, der nicht über vergitterte Fenster verfügte, und obwohl er nicht streng gläubig war, war es ein befreiendes Gefühl, mit den anderen zu singen, ganz gleich welchen Text er aus dem Gesangbuch vor sich ablas, und ein wenig Musik zu hören, die ausnahmsweise nicht aus der Konserve kam. So verging Sonntag um Sonntag.
»Ein Kumpel hat mal zehn Liter »Aufsatz« gehabt«, erklärte ihm Jo und aß gerade mal wieder auf dem Klo. »Da konntest du die ‚Alkaselza’ gleich mit drin auflösen, so hat das gewirkt.« »Was ist das?« fragte Schweiger. »Du weißt aber auch gar nichts!« beklagte sich Jo und mochte damit nicht ganz Unrecht haben. »Du hast gesagt, ich kann dich alles fragen«, verteidigte Schweiger sich. »Wasser, Brot und Apfelsinenschalen«, sagte Jo essend. »Warum ißt du eigentlich immer auf der Toilette?« fragte Schweiger. »Da ist der meiste Platz in unserer Bude, und es sitzt sich gemütlich«, antwortete jo und löffelte den letzten Rest Apfelmus in sich hinein, den sie noch vom Mittag übrig hatten. »Außerdem – was oben reinkommt muß auch unten wieder raus.« Schweiger war stolz darauf, trotz Jos Einfluß noch immer kein Knacki geworden zu sein. Er fand nachwievor ausschließlich Frauen anziehend, dachte nicht daran, wie man es möglicherweise anstellen konnte, vom Vollzugspersonal unbemerkt aus Brotscheiben, Wasser und Apfelsinenschalen Alkohol zu brauen oder des Nachts die Gefängnismauer zu überwinden.